Digitalisierungsstrategie

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Digitalisierungsstrategie

Ist Digitalisierung Chefsache? Darüber haben wir mit Michel Golibrzuch, Präsident des Landesamtes für Geoinformation und Landesvermessung Niedersachsen (LGLN), gesprochen. Als eines der größten Landesämter Niedersachsens ist das LGLN an 55 Dienstorten verteilt. Im Interview berichtet der Verwaltungsreformer über Hürden, Schlüsseltechnologien, Partner und seine langfristigen Ziele.

Vorweggehen in Niedersachsen

Vorweggehen in Niedersachsen Michel Golibrzuch, Präsident LGLN

Herr Golibrzuch, Sie sind seit Juni 2017 Präsident des LGLN. Welche Aufgaben hat Ihr Haus?

Kernaufgaben der Katasterverwaltung sind die Eigentumssicherung und die Transparenz des Grundstücksmarkts. Als Träger des amtlichen Vermessungswesens weisen wir die Liegenschaften und die Topografie des Landesgebietes nach. Auch stellen wir Geobasisdaten in unterschiedlichen Formaten bereit. Ebenso Teil des LGLN ist die Kampfmittelbeseitigung, also Luftbildauswertung und Entschärfung von Blindgängern vornehmlich des Zweiten Weltkriegs.

Ist bei Ihnen Digitalisierung Chefsache und kann man das „nebenbei“ leisten?

Es ist heutzutage die Pflicht einer jeden Behördenleitung, Digitalisierung zur Chefsache zu machen. Gerade weil damit nicht nur eine massive Veränderung gewohnter Geschäftsprozesse einhergeht, sondern eine neue Arbeitskultur, bedarf dieser Wandel der uneingeschränkten Unterstützung der Hausspitze. Und ja, das macht dann einen erklecklichen Teil der Arbeitszeit einer Behördenleitung aus. Das gehört nach meinem Verständnis aber zum Anforderungsprofil einer Führungskraft, die sich mit ihrer Verwaltung in einer zunehmend digitalen Welt behaupten will.

Wer profitiert von einem digitalisierten LGLN am meisten – die Bürgerinnen und Bürger, die Wirtschaft, andere Behörden?

Tatsächlich glaube ich, dass alle Akteure gleichermaßen von digitalen Abläufen profitieren. Die Behörde wird effizienter und kann auf den Fachkräftemangel teilweise durch automatisierte Prozesse reagieren. Bürgerinnen und Bürger und Wirtschaft haben den offensichtlichen Vorteil, dass sich die Bearbeitung ihrer Anliegen beschleunigt.

Welche Digitalisierungsprojekte sind bislang besonders gut gelungen?

Einzuräumen ist, dass wir im LGLN zunächst einmal eine nachholende Modernisierung der IT-Infrastruktur vorzunehmen hatten. Netzwerk-Verkabelungen an zahlreichen Standorten waren zu erneuern, die Anbindung ans Weitverkehrsnetz des Landes zu verbessern. Wir mussten die Hardware standardisieren und die Zahl der eingesetzten Software-Produkte konsolidieren. Manche Behörden haben diese Phase schon vor zehn Jahren abgeschlossen, viele Ämter haben das alles aber auch noch vor sich. Hierfür muss man gut zwei Jahre veranschlagen, allein schon wegen der notwendigen baulichen Ertüchtigungen. Auch mussten erstmal Rahmenverträge auf Seiten unseres Partners, dem Landesbetrieb IT.Niedersachsen (IT .N), geschlossen werden. Einen Feldrechner, wie wir ihn zwingend für unsere Messtrupps im Außendienst benötigen, hatte IT .N vor drei Jahren noch gar nicht im Portfolio.

In dieser Phase der Konsolidierung sieht man dann vergleichsweise rasch auch die Erfolge: ein standardisierter Feldrechner, statt zuvor 14 unterschiedliche Modelle; nur noch 200 Software-Produkte statt zuvor über 500. Außerdem konnten wir damit punktgenau zum zweiten Lockdown eine hundertprozentige Notebook-Ausstattung aller Arbeitsplätze im LGLN realisieren und dadurch ohne größere Einschränkungen auch im Homeoffice weiterarbeiten. Der schwierigere Teil ist demgegenüber die Modernisierung sämtlicher Fachanwendungen. Das ist nicht nur im LGLN so, das gilt für die öffentliche Verwaltung in Deutschland insgesamt. Die IT-Architektur der Fachverfahren ist in der Regel nicht kompatibel mit dem Anspruch einer durchgehend medienbruchfreien Bearbeitung wie sie auch das Onlinezugangsgesetz (OZG) idealtypisch verlangt. Hier müssen Monolithen dekonstruiert und mittels standardisierter Schnittstellen vernetzbar gemacht werden. Das gilt für den Datenaustausch mit anderen Behörden vertikal wie horizontal, aber natürlich auch für die Leistungserbringung gegenüber externen Kundinnen und Kunden. Erfolge bei der Anwendungsmodernisierung werden deshalb meist erst später sichtbar. Mit BORIS.mobile haben wir indes bereits erste wichtige Bestandteile einer zukünftigen Wertermittlungsplattform frei geschaltet, mit der Bodenrichtwerte und andere Marktdaten auch für Smartphones und Tablets verfügbar gemacht werden.

Auf welche Schlüsseltechnologien und Trends setzen Sie?

Geomatik Ausbildung Das LGLN hat vor zwei Jahren die Geomatik flächendeckend als Ausbildungsberuf eingeführt. Die jungen Menschen lernen unter anderem den Umgang mit großen Datenmengen.

Unsere Referenzarchitektur sieht vor, dass wir bei all unseren Anforderungen zunächst einmal regelhaft prüfen, ob es entsprechende Lösungen am Markt gibt, die wir als Software as a Service einkaufen können. Ist das nicht der Fall, müssen wir selbst entwickeln, was bei unseren sehr speziellen Anforderungen durchaus häufiger vorkommt. Wir setzen dabei auf Cloud-basierte Entwicklungen, natürlich unter Beachtung aller Compliance-Anforderungen.

Auch gehen wir davon aus, dass die Cloud-Angebote sich dynamisch entwickeln und öffentlich-rechtliche IT-Dienstleister entsprechende Leistungen vorhalten werden. Hilfsweise könnten private Anbieter zertifiziert werden und als Partner der öffentlichen Verwaltung auftreten. Die Diskussion darüber ist ja in vollem Gange. Bei der Modernisierung unserer Fachanwendungen setzen wir auf allgemein gebräuchliche Web-Technologien und standardisierte Programmierschnittstellen, sogenannte Application Programming Interfaces (API). Wir entwickeln die Software agil und nutzen dabei die Scrum-Methode.

Unser strategisches Ziel ist es, den Betrieb eigener IT-Infrastruktur aufzugeben und uns auf Entwicklung und Pflege unserer Applikationen zu fokussieren. Folgerichtig sind die Clients des LGLN im letzten Jahr in die Betriebsverantwortung von IT .N abgegeben worden, sämtliche Server und Datenbanken, Speicher- und Archivsysteme sollen bis 2024 folgen.

Darüber hinaus pilotieren wir seit zwei Jahren den Einsatz von automatisierten Bilderkennungsverfahren und von Künstlicher Intelligenz (KI). Wir wollen aus digitalen Luftbildbeständen Gebäude identifizieren, die nicht oder geometrisch unrichtig in den aktuellen Datenbeständen des Liegenschaftskatasters eingetragen sind. Zum Einsatz kommen hier die IBM-Software Watson bzw. andere neuronale Netze wie Scaled YOLO4 zur Verbesserung der Erkennungsrate. Der Einsatz von KI wird im LGLN weiterhin zur Ableitung von Informationen etwa zur Landbedeckung aus Satellitenbilddaten der EU (Copernicus) und damit zur automatisierten Aktualisierung unserer geotopografischen Datenbestände erprobt.

Welche Hürden haben sich ergeben, mit denen Sie nicht gerechnet haben? Würden Sie aus heutiger Sicht anders vorgehen?

Wenn man bereits mehr als zweimal in größeren IT-Projekten mitwirken durfte, sollte einen wirklich nichts mehr überraschen. Die Hürden sind deshalb zunächst immer erstmal die erwartbaren, dass an etablierten Produkten und Geschäftsprozessen festgehalten wird. Wartet man aber, bis wirklich alle Betroffenen von der Notwendigkeit einer durchgreifenden Modernisierung überzeugt sind, ist es meistens zu spät.

Die Verantwortung einer Behördenleitung, aber auch von Führungskräften generell, ist es, in einem solchen Veränderungsprozess immer wieder zu werben, zu erklären und damit zu überzeugen, notfalls aber auch Verantwortung zu übernehmen und etwas zu entscheiden. Letzteres scheint etwas aus der Mode gekommen zu sein, ist aber Voraussetzung dafür, dass Veränderung tatsächlich stattfindet. Natürlich muss man dafür wissen, welches Ziel man eigentlich hat. Klingt selbstverständlich, ist aber manchmal wohl tatsächlich der Grund, warum nur noch so wenig entschieden wird. Meine Erfahrung ist, dass die Beschäftigten sehr dankbar sind für nachvollziehbare Erklärungen und damit für Orientierung. Man digitalisiert ja nicht, weil es gerade schick oder trendy ist, so wie früher „irgendwas mit Medien“, sondern aus harten organisatorischen und ökonomischen Gründen.

Eine nicht zu unterschätzende Hürde ist darüber hinaus, dass eine Behörde ja nicht nur externe Kundinnen und Kunden hat, sondern auch interne. Das LGLN ist kein Selbstzweck, deswegen orientieren wir uns einerseits am Markt und daran, welche Services und Produkte Wirtschaftsunternehmen und Hochschulen von uns erwarten. Andererseits haben wir Lieferverpflichtungen gegenüber anderen Behörden, die mitunter Datensätze nur in veralteten Formaten verarbeiten können. Diese sogenannte Rückmigration, die dann erforderlich wird, ist natürlich nicht das, was man sich wünschen würde.

Wer hat Ihnen auf dem Weg bisher am meisten geholfen und welche Partner hatten Sie an Ihrer Seite?

Geomatik Ausbildung Zu den Aufgaben des LGLN gehört auch der Kampfmittelräumdienst.

Vorneweg zu nennen ist der Landesbetrieb IT .N, unser landesinterner IT-Dienstleister, mit dem zusammen wir die Client-Migration durchgeführt haben und aktuell die Server-Migration vorbereiten. Dort, wo IT .N kein eigenes Personal vorhält, bedient der Landesbetrieb sich aus dem jeweils gültigen IT-Dienstleistungsrahmenvertrag, und so werden dann mittelbar auch Privatfirmen unsere Partner, auch wenn wir ausschließlich Rechnungen von IT .N bekommen.

Entsprechend den jeweiligen Losen haben hier zuletzt ComputaCenter und Materna den Zuschlag für das Land Niedersachsen bekommen. Beide Firmen haben uns in den vergangenen Jahren in hervorragender Weise unterstützt. ComputaCenter bei Migration der Clients, Materna bei der Entwicklung von BORIS.mobile, aber auch in den Workshops zu unserer neuen IT-Referenzarchitektur.

Im Bereich der KI arbeiten wir darüber hinaus seit zwei Jahren sehr eng mit IBM zusammen und nutzen die neuronalen Netze von Watson, wie das auch unsere schwedische Schwesterverwaltung praktiziert. Überhaupt pflegen wir gute Kontakte ins Ausland, insbesondere in die Niederlande, nach Finnland und nach Österreich, wo die öffentliche und auch die Vermessungsverwaltung ja teilweise schon weiter ist, als wir es in Deutschland sind.

Sie verantworten über 200 Auszubildende. Welchen Stellenwert hat für Sie Ausbildung im Digitalisierungskontext?

Ausbildung spielt für uns eine überragende Rolle. Mit Blick auf die Digitalisierung haben wir neben der Vermessungstechnik vor zwei Jahren auch die Geomatik flächendeckend als Ausbildungsberuf im LGLN eingeführt, weil der Umgang mit großen Datenmengen sowie das Visualisieren entsprechender Datensätze eine wachsende Bedeutung erfährt. Aktuell prüfen wir, wie wir die Digitalisierung stärker auch in den Ausbildungsinhalten für Vermessungstechnik verankern können.

Wie stellen Sie sich Ihr Haus in den nächsten fünf Jahren vor ?

Geobasisdaten in Kombination mit Fachdaten spielen für die öffentliche Verwaltung eine zunehmend wichtige Rolle. Schon heute gibt es zahlreiche Anwendungsfälle, die von anderen Behörden an uns herangetragen werden: So haben wir etwa eine Waldbrandeinsatzkarte als App programmiert, ein Haltestellen- und ein Radwegekataster erstellt oder einen Sportstätten-Viewer unterstützt.

Jüngst ist die Polizei an uns herangetreten, um zur Wiederaufnahme von Ermittlungen in sogenannten „Cold Cases“ historische Karten bzw. Datensätze zu erhalten. Kurzum, Anwendungsfälle gibt es zuhauf, aber es macht keinen Sinn, dass jetzt alle Behörden Geoinformatiker:innen einstellen, so viele Fachkräfte gibt der Markt auch nicht annähernd her.

In fünf Jahren möchten wir das LGLN deshalb als zentralen Geodatendienstleister der Landesverwaltung etabliert haben, als eine Behörde also, an die sich alle öffentlichen Verwaltungen in Niedersachsen gerne wenden, wenn sie entsprechende Unterstützung benötigen. Und natürlich wollen wir zudem zentraler Vermessungsdienstleister sein, auch für Flurbereinigung, Straßen- oder Deichbau, denn auch hier wird der Mangel an Ingenieuren zunehmen, während die fachliche Expertise immer häufiger benötigt werden wird.