Mitarbeiterportal Zoll (MAPZ)
Agile Methoden setzen sich in der Entwicklung weiter durch. Dennoch befürchten so manche Manager, dass dies zu mehr Chaos führt. Wir stellen ein erfolgreiches IT-Projekt bei der Zollverwaltung vor, in dem die agile Vorgehensweise zum Erfolgsmodell geworden ist.
Wer hat Angst vor dem agilen Arbeiten?
Gemeinsam mit Materna baut der deutsche Zoll die Funktionen für das interne Mitarbeiterportal kontinuierlich aus. Nachdem bereits Fachprozesse im Portal realisiert wurden, startet das Team nun mit der Realisierung von organisatorischen und personalbezogenen Prozessen. Die Projektbeteiligten des Kernteams arbeiten bereits seit dem Jahr 2016 per remote und sind an fünf Standorten verteilt.
Die Projekt- und Entwicklungsarbeiten werden seit dem Jahr 2018 mit agilen Methoden umgesetzt. „Das war nicht immer einfach“, erinnert sich Sebastian Freund, Projektleiter bei Materna. „Wir mussten zu Beginn viel Überzeugungsarbeit leisten, dass agile Methoden nicht im Chaos enden würden. Während früher ein Release pro Jahr ausgespielt wurde, haben wir heute Release-Zyklen von einem Monat. Der Kunde hatte die Befürchtung, dass er nun in den zweiwöchigen Sprints alle Aufgaben erledigen müsse, für die er früher ein Jahr Zeit gehabt hätte“, so der Projektleiter.
Schon alleine die Größe der Zollverwaltung gibt einen Eindruck davon, wie komplex IT-Projekte dort werden können: Der Zoll beschäftigt bundesweit rund 43.000 Mitarbeiter*innen. Die Zollverwaltung besteht aus der Generalzolldirektion mit Hauptsitz in Bonn, 41 Hauptzollämtern und 250 Zollämtern sowie acht Zollfahndungsämtern. Die Arbeitsbereiche umfassen Wareneinfuhr und -ausfuhr, Steuern, Schwarzarbeit, Plagiate, Kriminalität und Artenschutz.
Abläufe digital abgebildet
Alle Mitarbeiter*innen der Zollverwaltung arbeiten nach dokumentierten und nachvollziehbaren Prozessen. Hierzu hat der Zoll seine Abläufe in ein Portal für Informations- und Wissensmanagement überführt und es mit anderen IT-Systemen verknüpft. Das von Materna realisierte Mitarbeiterportal ist das zentrale Arbeitsmittel für alle Zöllner. Dort stehen Informationen, Wissen und Services entsprechend der jeweiligen Aufgaben der Sachgebiete zum Abruf bereit. Mit dieser Plattform werden nahezu alle der zollfachlichen Standards abgebildet: Dies sind die zur Bearbeitung eines Vorgangs erforderlichen Arbeitsschritte und Informationen. Anders ausgedrückt: Es sind elektronische Bedienungsanleitungen für alle Fälle der Zollverwaltung.
Es benötigt jedoch kein Mitarbeiter Zugriff auf alle Prozesse. Mit ihrem Login greifen die Beschäftigten nur auf die Standards zu, die für ihre Aufgaben benötigt werden – egal, an welchem Rechner sie angemeldet sind. Jeder Mitarbeitende sieht die für seine bzw. ihre Arbeit benötigten Teilschritte, die mit den relevanten Informationsquellen, Vorschriften, Formularen und Rechtsgrundlagen verknüpft sind. Durch alle diese Prozesse und Informationen können die Zollmitarbeiter*innen komfortabel navigieren und gezielt nach einzelnen Aspekten suchen.
Agile Transformation startet in den Köpfen
Materna hat die agile Vorgehensweise Schritt für Schritt an die Mitarbeiter*innen der Zollverwaltung herangetragen. Wichtig bei der Einführung ist, dass eine agile Transformation auch in den Köpfen der Menschen stattfindet. Materna hat dem Zoll die möglichen Fallen geschildert und dargestellt, wie sich agile Abläufe auch an bestehende Prozesse in der Organisation anpassen lassen. Materna konnte anschließend die spezifischen Methoden für das laufende Projekt an die individuellen Bedürfnisse des Zolls anpassen.
Dazu ein Beispiel: Das Testteam am Zollstandort Nürnberg übernimmt die fachliche Abnahme von Software. Hier wurde das agile Vorgehen an die vertraglichen Vorgaben des Kunden angepasst. Laut reiner Scrum-Lehre existiert keine explizite Abnahme. Vertraglich ist sie aber vorgeschrieben. Es wurde eine Lösung gefunden, die beide Bedürfnisse vereint: Es gibt den Sprint-bezogenen kontinuierlichen Test sowie den formalen vertragsnotwendigen Test für jedes Release.
„Wir passen auch die agile Methode selbst an die Bedürfnisse des Projektes kontinuierlich an. Logischerweise, denn warum sollten agile Methoden gerade bei sich selbst enden?“, so Sebastian Freund. Scrum sieht er als einen Blueprint, der den Einstieg in die agile Welt erleichtert. „Für uns zählen Werte, keine starren Regeln. Das schließt die Methode mit ein“, fasst er die grundsätzliche Haltung zusammen.
Agilität ist genau das Gegenteil von Chaos, da der Fokus auf den zweiwöchigen Sprints und den definierten Aufgaben liegt. Die Mitarbeiter*innen arbeiten fokussierter und priorisierter. Die Zyklen sind dafür deutlich kürzer. Die kürzeren Zyklen sorgen dafür, dass die Teams eine sehr verlässliche Grundlage zur Bewertung von Priorisierungen haben. Die engeren Zyklen sind zudem auch wirtschaftlicher, weil bei der Entwicklung immer wieder nachjustiert wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Team in die falsche Richtung entwickelt, sinkt dadurch. Zur Koordination der anstehenden Aufgaben verwenden die Entwicklungs- und Projektteams von Materna und Zoll Jira, eine Software zur Vorgangs- und Projektverfolgung von Atlassian.
Wichtig bei der Einführung einer neuen Methode ist es, dass sich die Einstellung der Menschen ändert. Wer nach agilen Methoden arbeitet, muss Fehler und Probleme ansprechen dürfen. Dies erfordert eine Vertrauensbasis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer, da beide dynamisch zusammenarbeiten. Dabei darf nicht evangelisiert werden. „Stattdessen haben wir gemeinsam den Blickwinkel auf Anforderungen geändert. Beim Formulieren von Anforderungen an das Mitarbeiterportal ist es notwendig, in User Stories zu denken. Wir haben die Zollmitarbeiter*innen darin geschult, wie sie User Stories formulieren und umsetzen“, erläutert Sebastian Freund.
User Story stellt Nutzer*in in den Fokus
Zentrales Element einer User Story ist es, dass sie einen Wert für die Nutzer*innen hat und daher vom Nutzerbedürfnis ausgeht. Entsprechend werden alle Sachverhalte bei der Ausarbeitung der User Story vor diesem Hintergrund diskutiert. Dabei ist die spätere Umsetzung der neuen Anforderungen im Rahmen einer User Story erst einmal unabhängig von der Technologie. Insgesamt verläuft die Erstellung jeder neuen User Story nach einem fest definierten Prozess, den Materna erarbeitet hat. Hier werden alle Beteiligten frühzeitig ins Boot geholt.
Insbesondere die Tester*innen sind nun deutlich früher in die User Stories involviert als beim klassischen Vorgehen wie der Wasserfallmethode. So identifiziert das Projekt Schwachstellen, die beispielsweise die Usability betreffen, besonders frühzeitig. Außerdem hat Materna mit den Dailys, den Sprint Plannings und den Sprint Reviews Rituale geschaffen, auf die sich alle Beteiligten verlassen können.
Somit ist aus dem vermeintlichen Schreckgespenst Agilität ein starker Verbündeter geworden, der zu fokussiertem Arbeiten geführt hat. Das Projektteam arbeitete in der Folge gerne und effizient zusammen und hat das agile Arbeiten angenommen. „Die Projektmitarbeiter*innen von Zoll und Materna sind auf Augenhöhe“, fasst Sebastian Freund zusammen. Zu den wichtigsten Ergebnissen zählen eine schnelle Reaktionsfähigkeit auf neue Anforderungen sowie ein priorisiertes Arbeiten. Ausgestattet mit dieser effizienten Methodik, gelang es, die Effizienz und die Qualität der Projektarbeit zu steigern.
Technologie
- Government Site Builder (Content-Management-Lösung)
- Spring Boot Framework für REST-basierte Microservices-Architektur
- React als Frontend
Die eingesetzte Technologie ist im Wesentlichen auf Effizienz getrimmt. Das gilt auch für das Frontend. Hier werden dank React bei der Ausgabe von User Interface-Komponenten im Portal keine Templates mehr benötigt, sondern es erfolgt eine Javascript-basiert Ausgabe der Seiten. Auch die UI-Logik findet im Wesentlichen auf dem Client statt und nicht auf dem Server.
Mit dem neuen Release 4.0, das noch 2020 ausgeliefert wird, wird die Nutzerführung komplett neu gedacht. Es ist ein vollständig durchdefiniertes User Interface auf Basis moderner UX-Erkenntnisse. Auch wenn mobiles Arbeiten beim Zoll bisher selten stattfindet, wird das gesamte UI schon auf mobile Endgeräte ausgelegt. Der Schritt zur App ist damit nicht besonders groß.